Eine Scheibe Brot
- Felix Auras

- 14. Juli 2023
- 2 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 5. Sept. 2023
Da liegt sie nun, diese Scheibe Brot.
Grobporig harrt sie auf dem weißen Porzellanteller, hier und da mit ein paar Körnereinschlüssen, die ein bisschen wirken, wie urzeitliche Insekten in Bernstein.
Was geht dieser Scheibe gerade durch den Kopf? Freut sie sich vielleicht auf die Leberwurstmaske oder steht sie eher darauf, belegt zu werden.
Vielleicht fürchtet sie sich auch vor dem, was da kommen mag: wenn ein Fremder ihr ungefragt eine Scheibe Salami auf die Zwölf haut oder ihr kiloweise Marmelade ins Antlitz schmiert.
Empfindet sie es gar als Eingriff in ihre Privatsphäre, wenn ein unrasierter 44-jähriger Beamter am Frühstückstisch, mit nichts weiter bekleidet als einem muffigen Morgenmantel, den nicht einmal mehr die Motten anfressen würden, ohne ihre Erlaubnis in sie hinein beißt.
Oder findet sie es geil? Man weiß es nicht.
Fest steht jedenfalls, dass dies ihre letzten Augenblicke sind, bevor sie über den Jordan gehen wird.
Vielleicht hinterfragt eine Scheibe Brot in so einem Moment auch ihre Lebensentscheidungen.
Damals, in jungen Jahren, als sie sich als jugendliche Ähre zusammen mit den anderen Getreidehalmen in der warmen Sommersonne wiegte, wie besoffene neunzehnjährige Teenagerinnen auf einem Ed-Sheeran-Konzert und die strahlenden Zukunft noch vor sich hatte.
Man, was hätte aus ihr werden können.
Vielleicht träumte sie damals davon, ein Biskuit im Buckingham Palace und dem König ganz vornehm während der Tea Time serviert zu werden.
Oder eine Vollkornnudel, die von irgendeinem cholerischen fünftausend-Sterne-Koch geradezu virtuos nebst einem Stück flambierten Spargel an fruchtiger Himbeervinaigrette und einem Spiegel aus Salbei und Fenchel platziert wird.
Oder ein Haferkeks, den Hippiemütter ihren fetten Kindern in den Hals schieben, damit sie für fünf Minuten aufhören, herumzubrüllen wie abgestochene Schweine.
Wie dem auch sei, dafür ist es nun zu spät.
Nun liegt sie hier und sinniert über den Sinn des Lebens, über verpasste Chancen und unnütz verplemperte Stunden.
Eine Fliege setzt sich auf sie nieder und wehrlos muss die arme Scheibe Brot das perverse Gesauge und Gelutsche über sich ergehen lassen.
Die schwache Hand des Beamten verjagt sie und für einen Moment ist sie ihm dankbar, dass er sich in ihren letzten Momenten so rührend um sie kümmert.
Dann wie aus dem Nichts senkt sich ein drohender Schatten über die Scheibe Brot und nur Momente später wird sie begraben von einem glühend heißem Spiegelei.
Kurz darauf verstummen ihre Schmerzensschreie.
Für immer.



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